Warum die RAF auch die Angehörigen der Täter zu Opfern gemacht hat .
 

Der Terrorismus reißt viele Wunden, Verletzungen, über die es mitunter auch nach Jahrzehnten immer noch schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, hinwegzukommen. Doch die schlimmsten sind vielleicht solche, die weder Personen noch Objekte, sondern eher immaterielle Ziele betreffen. Ziele, die nicht einmal intendiert waren und niemals explizit ins Visier gerückt worden sind.

Eine der hinterhältigsten Taten der RAF richtete sich gegen den Frankfurter Bankier Jürgen Ponto. Ein vierköpfiges Kommando versuchte am 30. Juli 1977 den Vorstandssprecher der Dresdner Bank aus seinem Haus in Oberursel zu entführen, um mit ihm als Pfand RAF-Häftlinge freizupressen. Als dieser sich zur Wehr setzte, wurde er umgehend niedergeschossen. Die Schützen waren Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Mit dabei waren Susanne Albrecht, die sich mit einem Blumenstrauß das Vertrauen des Familienvaters erschleichen wollte, und Peter-Jürgen Boock, der ganz in der Nähe in einem Wagen auf die Geisel wartete. Das alles hatte Ähnlichkeit mit dem im November 1974 von der „Bewegung 2. Juni“ in Berlin ermordeten Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann. Auch hier waren die Täter mit einem Blumenstrauß in der Hand ins Privathaus gelangt und hatten ihr Opfer nach einem kurzen Handgemenge erschossen.

Eines jedoch macht die an jenem hochsommerlichen Samstagnachmittag begangene Mordtat von Oberursel unvergleichbar. Das ist die Rolle, die Susanne Albrecht dabei gespielt hat. Sie war in gewisser Weise der Köder, den man gelegt hatte, um sich des Bankiers zu bemächtigen. Dies wiederum war nur möglich, weil es ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen der RAF-Frau und dem ins Visier genommenen Opfer gab. Jürgen Ponto und Albrechts Vater Hans-Christian hatten gemeinsam Jura studiert und waren seitdem eng miteinander befreundet, ihre Freundschaft wiederum stiftete eine enge Bindung zwischen beiden Familien, der Ehefrauen ebenso wie der Kinder.

Der förmlich im Handumdrehen in eine Mordtat umgeschlagene Entführungsversuch erwies sich insofern auch als ein Anschlag auf die Basis jeglicher stabilen sozialen Beziehung, auf das Vertrauen. Er zerstörte die über viele Jahre hinweg existierende Freundschaft zweier Familien und stellte die Beziehungen der Freunde wie der Eltern, der Eltern wie der Kinder nachhaltig infrage. Denn wenn es kein Vertrauen mehr gibt, dann setzt ein Zerfallsprozess ein, in dem sich die einzelnen Mitglieder der gesellschaftlichen Kernzelle in Schuldvorwürfen und Selbstzweifeln aufzureiben beginnen und in der Folge mehr und mehr abzuschotten und zu atomisieren.

Julia Albrecht, Susannes jüngere Schwester, war zum Zeitpunkt der Tat erst 13 Jahre alt. Die Tatsache, dass sie Pontos Patentochter war, hat sie in besonderer Weise dafür prädestiniert, sich mit dieser so tiefgreifenden Infragestellung ihrer Familienbande auseinanderzusetzen.

Erstes Resultat war das Buch „Patentöchter“, das sie vor vier Jahren zusammen mit Pontos Tochter Corinna vorgelegt hat, die wiederum Patentochter von Albrechts 2007 verstorbenem Vater war. Nun ist ein Film entstanden, für den Julia Albrecht nicht nur zusammen mit Dagmar Gallenmüller das Drehbuch verfasst hat. Sie hat es darin auch fertiggebracht, ihre Mutter und ihren Bruder Matthias vor die Kamera zu bringen und in einer Weise zu befragen, dass der schmerzhafte Prozess, den ihre Familie seitdem durchlebt, förmlich greifbar wird. Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen – so könnte die paradox anmutende Voraussetzung dieses Filmvorhabens gelautet haben – wäre das gewiss nicht möglich gewesen.

Ein Satz, an den Christa Albrecht, die Mutter, sich rückblickend erinnert, macht das Drama, das ihre Familie seit 1977 so sehr ins Schlingern gebracht hat, schlagartig deutlich. Der Satz stammt von Julia und bezieht sich auf ihre zu diesem Zeitpunkt doppelt so alte Schwester. Er lautete kurz und bündig: „Susi hat nicht geschossen.“ Die Jüngere versuchte sich damit an das scheinbar entlastende Faktum wie an einen Strohhalm zu klammern. Susanne war zwar ebenfalls bewaffnet gewesen, hatte aber im Unterschied zu den beiden anderen Kommandomitgliedern nicht von ihrer Waffe Gebrauch gemacht.

Doch was hier für einen Moment wie ein letztes Schutzschild der Familienehre auftauchte, war in Wirklichkeit nichts wert. Unter Kommentatoren galt Susanne Albrechts Tatbeitrag als besonders perfide, ja als noch verwerflicher als das, was Mohnhaupt und Klar getan hatten. Schließlich war sie die heimtückische Türöffnerin, die obendrein auch noch den Eindruck erweckte, sich als Nicht-Schützin aus der Verantwortung stehlen zu wollen. Und als sie später in Stuttgart-Stammheim vor Gericht gestellt wurde, sollte sie im Gegensatz zu ihren Mittätern mit einer zwölfjährigen Haftstrafe in der Tat noch relativ glimpflich davonkommen.

Die Tatsache, dass Susanne Albrecht nicht selbst geschossen hatte, konnte die Beziehung zwischen den Albrechts und den Pontos allerdings nicht mehr retten. Auch wenn sich die Hamburger Anwaltsfamilie bereits am Tag nach dem Mordanschlag auf den Weg zu Ignes Ponto und ihren Kindern machte, um sie über den Tod ihres Mannes und Vaters zu trösten, so war das Entsetzen über die Perfidie, mit der die älteste der Albrecht-Schwestern bei mehreren Besuchen das Anwesen der Familie Ponto zuvor ausgekundschaftet hatte, doch so tief, dass nichts mehr zu kitten war.

Wechselseitige Sprachlosigkeit war das Resultat. Die Beziehungen der beiden Familien waren gekappt, jede für sich in ihrem inneren Zusammenhalt gefährdet, wenn nicht gar zerstört. Niemand schien eine Erklärung für das Unfassbare zu haben. Die Pontos zogen unmittelbar nach der Beerdigung in die USA, um sich dem Druck zu entziehen, und die Albrechts, die sich das Verhalten ihrer Tochter nicht erklären konnten, waren durch deren Tat zudem in der Öffentlichkeit regelrecht stigmatisiert. Besonders schwierig war das für Julia, die ja noch zur Schule ging. Ihr war klar, dass alle davon wussten und hinter vorgehaltener Hand darüber sprachen; doch es gab niemanden, der den Mut hatte, das unsichtbare Schweigegebot zu durchbrechen und mit ihr darüber zu reden.

In dem ARD-Film wird die Biografie der 1951 geborenen Susanne Albrecht nachgezeichnet. Aufgewachsen im Hamburger Nobelvorort Blankenese hätten die klassischen Super-8-Aufnahmen im Familienkreis nur zu leicht die Stationen einer behüteten Kindheit und Jugend illustrieren können. Doch in „Susis“ Fall kam alles ganz anders. Sie entwickelte sich als das Sorgenkind der Familie und entglitt den Eltern mehr und mehr. Nachdem sie auf ein Internat gewechselt war und ihr Abitur mit Mühe geschafft hatte, lehnte sie ihr Elternhaus vollständig ab. Während ihres Pädagogikstudiums begann sie damit, sich in einer RAF-nahen Szene zu bewegen.

Sie beteiligte sich 1974 an einem der Anti-Folter-Komitees, der Besetzung des Hamburger Amnesty-International-Büros und ließ sich mit der Beschaffung von Ausweisen und dem Schmuggel von Sprengzündern auch in die unmittelbare Unterstützungstätigkeit einspannen. Während dem Vater das Abgleiten seiner Tochter in den terroristischen Untergrund zunehmend bewusst wurde, scheint sich die Mutter das nur schwer vorgestellt haben zu können. Ihre Naivität und Gutgläubigkeit ging so weit, dass sie sich noch völlig ahnungslos in die Kontaktanbahnung zur Familie Ponto hatte einspannen lassen und den Besuchswunsch ihrer Tochter als Zeichen der Rückkehr zur Normalität glaubte interpretieren zu können.

Schonungslos macht der Film die Hilflosigkeit einer Familie bei all ihren Versuchen deutlich, das eigene Kind vom Schritt in den Terrorismus abzuhalten. Die Anwaltstochter aus Blankenese, deren Herkunft ihr einer späteren Aussage zufolge angeblich nur noch peinlich war, gab der mörderischen RAF den Vorzug gegenüber all den Wohlstands- und Sekuritätsversprechungen aus dem eigenen Hause. Warum das so kommen konnte, und vor allem warum sie dafür eine Familienfreundschaft zu opfern bereit war, um aus dieser eine Waffe und letztlich ein Mordinstrument zu machen, kann der Film nicht beantworten. Was er aber kann, das ist die Sichtbarmachung des innerfamiliären Dramas, das dieser Frontenwechsel und der ihm einbeschriebene Verrat ausgelöst hat.

Doch was ist eigentlich mit der Person, die all diese Fragen nur zu leicht und letztlich vielleicht auch nur allein beantworten könnte? Die nunmehr 64-jährige Susanne Albrecht, die seit langem unter einem anderen Namen als Lehrerin an einer Bremer Grundschule unterrichtet, hat sich strikt geweigert, an dem Film mitzuwirken. Obwohl sie einerseits als Kronzeugin unter den Ehemaligen der RAF als „Verräterin“ gebrandmarkt ist, hält sie damit andererseits am Redeverbot ihrer einstigen Genossinnen und Genossen fest.

Ihr Schweigen verhindert damit noch immer, den abgründigen Vertrauensbruch und das damit verbundene familiäre wie gesellschaftliche Rätsel zu lösen.

(Dr. Wolfgang Kraushaar)

 

Passender Film zum Theater Stück "Patentöchter" (Regie: Gernot Grünewald) am Thalia Gaußstsraße: (2.5., 9.5., 16.5. 20:00)

https://www.thalia-theater.de/stueck/patentoechter-2018

Filmmatinee im zeise am 12.5 um 11.00 . Film "Die Folgen der Tat" in Kooperation mit dem Thalia Gaußstraße, anschließend Publikumsgespraech mit dem Regisseur der Theaterinszenierung Gernot Grünewald und RAF Experten Dr. Wolfgang Kraushaar