Henry (Adam Driver) ist erfolgreicher Stand-Up-Comedian im Stile eines Lenny Bruce, der sein Publikum nicht mit amüsanten Anekdoten begeistert, sondern mit betont schockierenden, misogynen Auftritten. Als große Publikumsbeschimpfung könnte man das bezeichnen, als öffentlich ausgetragenen Kampf mit den eigenen Dämonen. Ganz anders seine große Liebe Ann (Marion Cotillard), eine liebreizende Opernsängerin. Das gemeinsame Kind scheint das Glück zu vervollständigen, doch dieses Kind namens Annette ist anders: Sie ist eine Puppe, eine Marionette, allerdings ohne sichtbare Fäden. Die öffentliche Beziehung des Paares fordert ihren Preis, bei einem Bootsausflug in stürmischer See kommt Ann ums Leben. Dass Henry bald darauf bei einem Auftritt Witze über den Mord an seiner Frau macht, lässt ihn erst recht verdächtig erscheinen. Allein mit Annette lebt Henry nun und plötzlich beginnt Annette zu singen und wird binnen kürzester Zeit zum großen Star.

Lange Jahre war „Annette“ in Arbeit, hätte schon letztes Jahr in Cannes Premiere feiern sollen, was die Corona-Pandemie verhinderte. Die Pausen zwischen neuen Filmen von Leos Carax werden immer länger, 2012 entstand „Holy Motors“, in dem Carax, der stets mehr oder weniger deutlich autobiographische Filme gedreht hat, endgültig zur Meta-Narration fand. Ein Film über das Showgeschäft ist nun auch „Annette“, der Nastya gewidmet ist, Nastya Golubeva Carax, der sechzehnjährigen Tochter von Leos Carax und Jekaterina Golubewa, einer inzwischen verstorbenen russischen Schauspielerin, deren Todesumstände nicht eindeutig sind, möglicherweise nahm sie sich das Leben. Eine Amour Fou lebte Carax mit ihr, große, tragische Liebesgeschichte zeigte er auch in seinen Filmen immer wieder, schon in seinem Debüt „Boy meets Girl“, am berühmtesten wohl in „Die Liebenden von Pont-Neuf.“

Wie viel von Carax nun in Henry steckt, darüber mag man spekulieren, in der ersten Szene des Films taucht Carax selbst auf und gibt quasi den Takt an: In einem Tonstudio sitzt er an den Reglern, hat alles unter Kontrolle und fragt die Musiker: „Können wir anfangen?“ Die Musiker sind Ron und Russell Mael, zwei Brüder, die zusammen das Art-Rock Duo „Sparks“ bilden, die seit den 70ern Platten aufnehmen und gerade eine Renaissance erleben. Sie schrieben Musik und Texte zu „Annette“, die Adam Driver und Marion Cotillard singen, denn fast alle Dialoge werden – so wie in Klassikern des französischen Kinos wie „Die Regenschirme von Cherbourg“ – nicht gesprochen, sondern gesungen. Nicht unbedingt Broadway tauglich, doch gerade das Imperfekte macht den Charme aus, erst recht natürlich, da die Texte und Songs nicht unbedingt massentauglich sind, sondern auf ungewöhnliche Weise mit Sprache und Rhythmen spielen.

Bei allem musikalischen Vergnügen sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen: „Annette“ ist ein düsterer, existenzialistischer Film. Gerade Adam Driver agiert auf der Bühne, aber auch abseits davon, betont unsympathisch, ist alles andere als der Sympathieträger, als der er oft besetzt wird. Hier ist er ein selbstzerstörerischer, mit seinen Dämonen kämpfender Mann, der in der modernen, von #metoo geprägten Welt zunehmend fehl am Platz wirkt. Leos Carax macht es sich und dem Publikum mit „Annette“ nicht leicht, aber man sollte sich unbedingt auf dieses Erlebnis einlassen.
 

- programmkino.de

Frankreich/ Deutschland/ Belgien/ Mexiko/ Japan/ Schweiz 2021
FSK
ab 12
Länge
139
Genre
Drama, Musical
Regie
Leos Carax
Schauspieler
Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg
2021-12-16